Hotel Albrici: Im Patrizierhaus des «Podestà»

Es gibt in Poschiavo nur noch wenige Bauten, die an die bäuerliche Vergangenheit des Dorfs erinnern. Ein Beispiel ist die 664-jährige Casa Tomé, ein einfaches, aus Stein gebautes Bauernhaus, das heute als Museum öffentlich zugänglich ist. Kaum 100 Meter davon entfernt öffnet sich die Piazza Communale, wo die gepflegten klassizistischen Fassaden der stattlichen Häuser mit der spätgotischen Stiftskirche San Vittore um die Wette strahlen – von bäuerlichem Leben keine Spur.

Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gelangten viele Puschlaver Familien als Söldner, Landvögte oder Bürgermeister zu grossem Reichtum. Bernardo Massella, mehrmaliger «Podestà» in Poschiavo und im Veltlin, liess 1682 ein prächtiges Patrizierhaus am Dorfplatz errichten. Das repräsentative Familienwappen, das auf dem steinernen Medaillon an der Hauptfassade prangt, findet sich auch im Innern auf Möbelstücken oder am schwarzen Cheminée in der heutigen Hotelbar.

Breite Korridore unter Kreuzgratgewölben führen zu prächtigen Sälen mit historischem Mobiliar: Das baukulturelle Erbe der Familie Massella ist heute noch äusserst gut erhalten und zeugt vom herrschaftlichen Wohnstil der wohlhabenden Patrizier. Besonders sehenswert ist der «Sybillensaal» im ersten Obergeschoss mit seinen kunstvollen Holzschnitzereien und der zwölfteiligen Serie von Ölbildern aus dem 17. Jahrhundert.

Um 1848 verkauften die Nachkommen Massellas das Herrschaftshaus. Der neue Besitzer und Bürgermeister Piero Albrici baute das prestigeträchtige Gebäude an der zentralen Lage zum ersten Hotel in Poschiavo um. Anstoss dafür war der Ausbau der Berninapassstrasse, die das Tal touristisch erschloss und den Reiseverkehr quer über den Dorfplatz leitete. Mit neuen klassizistischen Bauten und bühnenbildartig umgestalteten Platzfassaden wurde das Dorfzentrum als «städtische» Piazza in Szene gesetzt. Heute wieder verkehrsberuhigt, lädt sie mit ihrem Charme und ihrer «Italianità» zum Verweilen ein.
 

Natalie Schärer, Schweizer Heimatschutz